Es ist wieder soweit! Wir gehen aufs Wasser. In England wartet ein Segelschiff namens „Jona“ (!) auf uns. Die Südküste Englands soll intensiv erkundet werden, und dabei das Boot nach Deutschland überführt werden. Anders als vor neun Jahren, als wir mit unserer INTI schnell in die andere Richtung durch den Kanal hetzten, um vor dem Herbst die Biskaya zu überqueren. Nun widmen wir uns der ganzen Schönheit dieser abwechslungsreichen Küste. Doch ganz so schnell geht es nicht los, das launische Wetter Englands hat uns im Griff.
Nachdem Smutje bereits eine Woche lang das Boot kennenlernen konnte, kommt Capitana eine Woche später dazu ins zu der Zeit sehr launische Torquay. Ein großes Riesenrad thront über dem Hafen, Urlauber laufen trotz kühler Temperaturen in Shorts und kurzen Röcken herum und geben den Blick auf ihre Tattoos frei. Möwen kreischen durch die Luft und picken liegengebliebene Pommes von den Tischen der vielen Fish&Chips Restaurants. Wir gehen unseren üblichen Segler-Aktivitäten nach, proviantieren, waschen Wäsche, tanken Wasser und Diesel und studieren Wetterberichte.
Nach zwei Tagen mit morgendlichem Nebel und sich im Minutentakt wechselndem Wetter lösen wir die Leinen. Unser Ziel heißt Weymouth. Nicht einfach, da ein großes Kap mit Strömungen und, bei falscher Tide auch sich gefährlich aufbauenden, Wellen umfahren werden muss. Doch alles bleibt ruhig, wir haben richtig gerechnet, passieren und legen abends im Stadthafen ins Päckchen an zwei andere Boote an. Bunte alte Steinhäuser säumen die Straßen und Gassen, Wimpel in den Farben der englischen Flagge zeugen von dem Thronjubiläum der Queen, das eine Woche zurückliegt. Wir lassen uns durch die Gassen treiben und legen gleich am nächsten Mittag wieder ab. Die nächste Hürde liegt vor uns, ein militärisches Sperrgebiet. Finden Schießübungen statt, muss das Gebiet weitläufig umfahren werden. Also ran an die Funke: „Wird heute geschossen, Sir?“ „Nein, heute nicht mehr, gute Fahrt!“. Sehr gut. Also nehmen wir den englischen Segelrummelplatz Solent ins Visier und arbeiten uns durch die schmale Einfahrt, die „Needles“ mit hässlicher Hackwelle, vor. Im Solent tobt das Segelleben, Regatten schießen uns entgegen, Passagierfähren, Luftkissenboote, so hatten wir das auch noch in Erinnerung.
Wir klappern etliche Häfen ab und freuen uns jedes Mal wieder über das bunte Seglertreiben, die verschiedenen Crewkonstellationen, die Boote und das englische Küstenvolk. Gerne lauschen wir dem englischen Singsang, vernehmen schon Meilen vor dem Hafen den über allem liegenden Geruch nach Frittenfett, verfolgen den unterschiedlichen Sound der Seevögel. Das Wetter bessert sich, auf See holen wir uns die ersten Sonnenbrände. Die Steilküste Englands ist faszinierend. Manchmal in Dunst gehüllt verändert sie während des Tages ihr Aussehen, vor der Dämmerung liegt sie im milden Licht neben uns bevor sie sich in sanften Rosatönen in den Abend verabschiedet.
Tidenberechnungen, Tonnen, Großschifffahrt. Das ist nach wie vor gewöhnungsbedürftig nach so langer Zeit auf den offenen Meeren. Doch es schult unsere Aufmerksamkeit auf dem weiteren Weg nach Dover. Die abgerockte Marina, die wir damals, 2013, vorfanden hat sich gemausert, sie wurde erweitert um ein nagelneues Becken, die Duschbereiche riechen nach neuem Gummi und Plastik, die Stromversorgung an den Stegen ist noch verpackt und das Ufer wurde aufgehübscht. Damals fiel uns als erstes ein völlig besoffener Mann in die Arme, als wir die Stadt erkunden wollten. Doch auch das nehmen wir immer wieder bei unseren Stopps wahr: Die Schere zwischen Arm und Reich ist noch stärker auseinandergegangen.
Jetzt liegt das Verkehrstrennungsgebiet zwischen Dover und Calais vor uns. Es muss im rechten Winkel zur Großschifffahrt überquert werden, was gut klappt. In unserem Eifer machen uns weiter auf nach Holland. Wir passieren Frankreich und Belgien und biegen in der anbrechenden Dunkelheit in die Schelde ein. Doch wir haben die aktuellen Zustände vergessen. Auf der Nordsee gibt es gerade einen Frachterstau vor Rotterdam und Antwerpen. Und gerade diese Schiffe scheinen an diesem Abend nach Antwerpen eingefädelt zu werden. Capitana sitzt unten im Boot am Rechner und lotst den am Steuer stehenden Smutje durch die vielen Lichter hindurch. Auch Fischer tummeln sich hier, Windparks blinken rhythmisch, Fähren rasen vorbei. Am frühen Morgen erreichen wir endlich die Schleuse in ruhigere Gewässer. In Vlissingen machen wir in einem Hafen fest und atmen tief durch. Geschafft! Jetzt liegt die Stehende Mastroute nach Amsterdam vor uns. Letztes Jahr haben wir auf einer anderen Bootsüberführung die nördliche Mastroute abgefahren, jetzt soll es die südliche bis Amsterdam sein und wir sind unglaublich gespannt.
Wir schlängeln uns unter den sich öffnenden Brücken hindurch, stellen aber fest, dass diese Route einen ganz anderen Charme hat. Viele große Gewässer werden gekreuzt und wir passieren an einigen Abschnitten mehr Industrie als malerische Wiesen und Dörfer. Oft ertönt vom Ufer der Bootsname „Jona“, welchen auch der Smutje trägt und jedes Mal ist die Verwirrung groß: Wer kennt uns hier? bis wieder der Groschen fällt. Wir wollen Gouda ansteuern, doch die letzte Brücke zu diesem käsigen Ort ist kaputt. Sie wird erst morgen wieder öffnen, also hangeln wir uns an Boskoop vorbei weiter gen Amsterdam. Spannend wird es kurz vor Schiphol. Hier wird eine große Autobahnbrücke zweimal täglich für Segler geöffnet. Doch die Brücke davor ist auch kaputt, sie kann im Berufsverkehr nicht repariert werden, die Techniker machen sich gen Abend dran. Wir hängen in der brüllenden Hitze davor und bangen. Die Techniker laufen in ihren orangenen Arbeitswesten auf und ab. Mal schwenkt die Brücke ein Stück auf, dann senkt sie sich wieder. Die großen Flieger nehmen Anlauf, um in Schiphol zu landen. Es riecht nach Kanal und Kerosin. Doch endlich schaltet sich die Ampel, die anzeigt, ob die Durchfahrt freigegeben wird, um. Die Brücke hebt sich und dahinter wenig später auch die riesige Autobahnbrücke zum Flughafen. Monströs steht sie in der Luft über uns, eine mehrspurige Autobahn, tonnenweise Asphalt hängen über dem Mast. Schnell durch und weiter.
Der Sommer ist da, wir passieren ein großes Gewässer bei Amsterdam, Partyboote, beladen mit tanzwütigen Jugendlichen, die dichtgedrängt zu lauter Musik tanzen. Eins nach dem anderen wabert vorbei, die Luft ist geschwängert von Alkohol- und Sonnencremegeruch. An einem Steg vor dem großen Abenteuer, der nächtlichen Konvoifahrt durch Amsterdam, machen wir fest. Die Brücken durch Amsterdam werden, wegen dem Verkehr, nur nachts geöffnet und nur für einen zusammenfahrenden Konvoi von Segelbooten. Wir sind aufgeregt und nehmen das Funkgerät zur Hand. „Hallo, wir möchten heute Nacht durch Amsterdam fahren. Wann öffnen die Brücken?“ Eine tiefe Stimme dringt aus dem Funkgerät: „The answer is negativ.“ Wir schauen uns an und fragen nach. Die Brücken öffnen nur noch an vier Tagen in der Woche, also morgen wieder. Wir bleiben am Festmachsteg vor der dröhnenden Autobahnbrücke.
Am nächsten Nachmittag klopft es am Boot. Zwei junge Frauen möchten wissen, ob sie die Badeleiter des Bootes benutzen dürfen, sie wollen schwimmen und es gibt keine Ausstiege weit und breit. „Klar, kein Problem.“. Ob es uns stört, wenn sie nackt ins Wasser gehen? „Nö, auch kein Problem.“. Wir haben auch seit Tagen nicht geduscht und springen fröhlich hinterher. Man mag sich fragen, ob das vor einer Stadt wie Amsterdam denn nicht eine Schnapsidee ist, doch wir erfahren, dass wir uns in einem Naherholungsgebiet befinden. Das Wasser wird regelmäßig gespült und hat eine gute Qualität.
In dieser Nacht versammeln sich kurz vor Mitternacht, zur Brückenöffnung, acht Segelboote, vor der Schleuse, die noch davor liegt. Sie kreisen im Ballett herum, grünes Licht, rotes Licht. Doch nichts passiert. Die Ampel bleibt auf Rot. Irgendwann kommt über Funk die Ansage, dass die Brücke kaputt sei und heute wieder nicht öffnen wird. Wir legen wieder an. Mit den Mitleidenden besprechen wir Alternativen, doch ganz haben wir die Hoffnung nicht aufgegeben, dass es morgen Abend klappen wird. Den Tag verbringen wir in einem quirligen Studentenviertel, schauen uns die Schleuse, durch die wir fahren müssen, näher an und bangen der Nacht entgegen. Wird es diesmal klappen? Die Spannung steigt, es sammeln sich noch mehr Segelboote als am gestrigen Abend. Gegen Mitternacht lösen Crews die Leinen und wieder formiert sich das Ballett aus Masten und Lichtern vor den Brücken und der Schleuse. Gespannt beobachten wir die Ampel. Und sie schaltet tatsächlich auf Grün um! Eine komplette Eisenbahnbrücke erhebt sich und dann fädeln sich die Boote in die Schleuse ein. Alle sind aufgeregt und so manches Boot liegt erstmal quer in der Schleuse, da es auch recht windig ist. Danach geht es in einem andachtsvollen Konvoi durch die niemals schlafende Stadt Amsterdam. Die Brücken heben sich wie von Geisterhand, an den Schranken davor winken uns Fahrradfahrer und Nachtschwärmer zu, die Bars sind voll, Lichterketten und Leuchtreklamen blinken gelblich in der warmen Nacht. Zwischen zwei Brücken werden wir eingeklemmt, da die nächste Brücke eine Eisenbahnbrücke ist, der Zug lässt auf sich warten. Die Boote haben nicht viel Platz, alle manövrieren umeinander herum, aufstoppen, vorwärts, rückwärts-so geht es eine Weile, bis sich endlich der Zug pfeifend über die Brücke bewegt. Noch zwei weitere Brücken und die Fahrt ist vorbei. An einem Anlegesteg machen nach und nach fast alle Boote fest, es ist mittlerweile 2 Uhr nachts. Mit einem holländischen Einhandsegler sitzen wir bis zum rötlichen Morgengrauen und genießen die Euphorie über diese Fahrt bei Bier und Snacks und vielen lustigen Reisegeschichten.
Die längste Strecke ist geschafft, von hier aus ist es nur noch ein Katzensprung in die Elbe und den Nord-Ostsee-Kanal, wo schon die Eigner auf uns warten.
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01.11.2022 Online-Seminar: Wettersoftware interpretieren, verstehen und anwenden
17.11.2022 Online-Seminar: Proviantierung und Ernährung an Bord von Blauwasseryachten
04.12.2022 Vom Kiez nach Kiribati – Teil 1: Mit Vollgas in die Entschleunigung
11.12.2022 Vom Kiez nach Kiribati – Teil 2: Blauzeit – Im Zickzack durch den Pazifik